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02. January 2024 | Portrait

Kultur des Helfens 3.0

Kultur des Helfens 3.0
BRUDERSCHAFT ST. CHRISTOPH – TRADITION NEU DENKEN
– Adolf «Adi» und Gerda Werner haben die Bruderschaft St. Christoph zu einer einzigartigen karitativen Vereinigung im Alpenraum gemacht. Sohn Florian Werner wird diese ins 21. Jahrhundert überführen und das Credo des Helfens ausbauen.
1955 kaufte der Feldkircher Papier- und Textilindustrielle Arnold Ganahl das Hospiz in St. Christoph am Arlberg. Was als Sommerfrische für die Belegschaft geplant war, dauerte jedoch nur kurz an, denn in der Dreikönigsnacht 1957 fiel das Haus einem verheerenden Brand zum Opfer. Ein Schicksalsschlag mit positiven Folgen. Immerhin bot der Neubau die Chance, das Hospiz zu einem Hotel auszubauen, das bei der Wiedereröffnung 1959 als erstes Haus am Arlberg seinen Gästen ausnahmslos Zimmer mit Bad anbot – zu einem Zeitpunkt, als es mit dem Wintertourismus gerade erst losging. Auch die durch den Brand komplett zerstörte Kapelle wurde möglichst originalgetreu wiederaufgebaut. Auf der Suche nach Dokumenten stiess der damit beauftragte Kaplan Richard Robin unter anderem auf die von Papst Bonifaz IX. signierte Gründungsbulle der Bruderschaft St. Christoph. Mit der Einweihung der Kapelle am 7. Januar 1962 wurde somit auch die Bruderschaft wieder ins Leben gerufen.
AUF DER SINNSUCHE
Zwei Jahre später übergab Arnold Ganahl die Leitung des Hospiz-Hotels Tochter Gerda und Schwiegersohn Adolf Werner, der das Gastgeben von klein auf verinnerlicht und in der Hotelfachschule Lausanne seine künftige Gattin kennengelernt hatte. Das Hospiz zu führen, hiess aber auch, die Bruderschaft St. Christoph zu leiten, obwohl zu Beginn niemand so recht wusste, was das bedeutete. «Ich weiss aus Erzählungen meiner Eltern, dass es in den ersten Jahren sehr schwierig war, Gäste zur Mitgliedschaft zu bewegen», sagt Florian Werner, der heute zusammen mit seiner Frau Ursula der 41. Gastgeber im Hospiz ist. «Mit Müh und Not gewann man jährlich etwa 25 neue Mitglieder, Mitte der 1970er-Jahre waren es nur knapp 500. Erst durch den Bau des Arlberg-Strassentunnels, bei dem 18 Arbeiter zu Tode kamen, bekam die Bruderschaft gewissermassen einen Sinn.»
So fasste man den Entschluss, die 64 hinterbliebenen Halbwaisen mit monatlich 1 000 Schilling zu unterstützen, wenngleich man zu dem Zeitpunkt nicht über die finanziellen Mittel verfügte. Doch es waren diese karitative Idee und der Mut, die der Bruderschaft Mitglieder und damit auch das nötige Geld bescherten: Bereits 1978 zählte man über 1 000 Mitglieder, danach ging es Schlag auf Schlag. Heute ist die Bruderschaft mit knapp 24 500 weltweit aufgenommenen Mitgliedern – rund 16 000 davon aktiv – eine der grössten rein karitativen Vereinigungen des Alpenraums.
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DIE BRUDERSCHAFT ST. CHRISTOPH unterstützt Sindbad. Das Sozialunternehmen verbindet junge Menschen aus UNTERSCHIEDLICHEN LEBENSWELTEN in Mentoring-Programmen.

 

Kultur des Helfens 3.0
MARIANNE HENGL (Bildmitte) hat mit dem Verein RollOn Austria die stärkste LOBBYGRUPPE für BEEINTRÄCHTIGTE MENSCHEN in Österreich aufgebaut. RollOn wird ebenso von der BRUDERSCHAFT ST. CHRISTOPH UNTERSTÜTZT.

 

BRUDERSCHAFT RELOADED
«Mit viel Energie und Fantasie haben mein Vater und meine Mutter die Bruderschaft zu dem gemacht, was sie heute ist. Und das alles nebenbei, schliesslich waren sie in erster Linie Hoteliers», streut Florian Werner seinen Eltern, beide mittlerweile über 80 Jahre, Blumen. Er selbst möchte es umgekehrt machen und sich neben dem Gastgeberdasein vor allem der Bruderschaft widmen: «Ich bin damit gross geworden. Meine Frau und ich sind seit vielen Jahren im Bruderschaftsrat und davon überzeugt, dass wir die Organisation im 21. Jahrhundert anders führen müssen.» Die Bruderschaft wird in Zukunft auch vermehrt Projekte von Non-Profit-Organisationen und Social Enterprises fördern. Ein Beispiel ist Sindbad, ein österreichweites Social-Business-Programm, das Jugendliche aus sogenannten Brennpunktschulen mit jungen Mentoren vernetzt. Ebenso wolle man künftig mit Sonderprojekten international aktiver werden – von Europa über den Mittleren Osten bis nach Afrika. «Das macht Sinn, immerhin sind auch die Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt zu Hause», so Florian Werner, der jedoch betont, dass die Bruderschaft ihr traditionelles Ziel – nämlich in Not geratene kinderreiche Familien im Grossraum Arlberg finanziell zu unterstützen – nicht aus den Augen verlieren beziehungsweise unverändert daran festhalten werde.
ON TOUR
Bei über 16 000 Mitgliedern, die jährlich einen Beitrag von 50 Euro zahlen (zusätzlich zur Aufnahmegebühr von 200 Euro), kommt durchaus eine respektable Summe zusammen. So konnten seit der Wiedergründung 1962 über 20 Millionen Euro ausgeschüttet werden. Möchte die Bruderschaft St. Christoph aber noch mehr Gutes tun und ihren Wirkungsbereich ausweiten, braucht es freilich mehr Geld und somit neue Mitglieder. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist Florian Werner seit Anfang des Jahres in Österreich, Deutschland, der Schweiz und in Liechtenstein unterwegs: «Es reicht nicht zu warten, bis Gäste und damit potenzielle Neumitglieder, aber auch bestehende Mitglieder zu uns kommen. Abgesehen davon möchte ich die Menschen dort treffen, wo sie ihren Lebensmittelpunkt haben. Diese Treffen sollen einerseits dem Get-together bestehender Mitglieder dienen und andererseits die Möglichkeit eröffnen, neue Mitglieder aufzunehmen – auch andernorts als bei uns am Arlberg», sagt Florian Werner. Mit diesem Schritt wandelt er auf den Spuren des Begründers Heinrich Findelkind. Im Alter von nur zehn Jahren musste der Vollwaise seinen Ziehvater in Kempten verlassen. Über den Arlberg zog er gen Süden und bekam vom Burgherrn der Burg Arlen in St. Anton Arbeit als Schweinehüter angeboten. Als er eines Tages im Frühjahr mitansehen musste, wie Leichen von Pilgern in St. Jakob beerdigt wurden, liess ihn deren Schicksal nicht mehr los. Und so beschloss er, eine Herberge zu bauen, die Reisenden Schutz bieten solle. Da er selbst nicht genügend Geld hatte, zog der damals erst 20-Jährige quer durch Europa von Haus zu Haus. 1386 wurde schliesslich die Bruderschaft St. Christoph gegründet, die seither den Leitsatz verfolgt: «Wie gut und angenehm es ist, einträchtig unter Brüdern zu weilen.»
Wer vor Ort ist und Zeit hat, trifft sich donnerstags im Hospiz beziehungsweise aufgrund von Umbauarbeiten zurzeit in der Hospiz Alm. Dabei kommt es fast jede Woche zum traditionellen Aufnahmeritual: Feierlich ernennt der Bruderschaftsmeister den neuen Bruder oder die neue Schwester mit einer Replica des 15.5 Kilogramm schweren Schwerts aus dem 14. Jahrhundert zum Mitglied. Derartige Traditionen sollen selbstverständlich beibehalten werden, doch es gelte, so Florian Werner, «diese zu modernisieren und vor allem die Jugend dafür zu begeistern». Die Bruderschaft wurde im 14. Jahrhundert von einem jungen Mann ins Leben gerufen und 1962 von jungen Menschen wiedergegründet. «Meine Eltern waren knapp 30. Auch das Durchschnittsalter lag damals bei 30 Jahren. Heute sind die Mitglieder Mitte 60. Da ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Bruderschaft im wahrsten Wortsinn ausstirbt.» Um die, wie Florian Werner sagt, «Bruderschaft next Generation» zu begeistern, muss man zeitgemäss und digital werden. Die Jugend ist das Herz der Bruderschaft und wie in einer Familie sollen auch bei der Bruderschaft Generationen miteinander aktiv sein – unter anderem über die Bruderschafts-Connect-App, die es den Mitgliedern erleichtert, miteinander in Kontakt zu treten, und die die Bruderschaft sozusagen auch zur Online-Community macht.
FREUDE AM HELFEN
Nach über 630 Jahren befindet sich die älteste karitative Vereinigung der Welt somit mitten im Relaunch. Der Bruderschaftsrat arbeitet derzeit intensiv an deren Weiterentwicklung. Gemeinsam, mit Mut und Weitsicht – genauso, wie dies Ende der 1970erJahre gewesen ist. Und die Pläne für die, wenn man so möchte, Bruderschaft 3.0 klingen vielversprechend. Kein Wunder, spürt man doch bei jedem Wort von Florian Werner, dass er mit derselben Begeisterung wie seine Eltern dabei ist: «Es bereitet einfach irrsinnig Freude zu helfen. Warum also sollen wir nicht noch mehr Sinnvolles tun?»